40 Jahre arbeiten in und leben für die NPO-Welt – Charles Giroud hat 1983 als erster Geschäftsführer der B’VM und abtretender Verwaltungsratspräsident massgeblich dazu beigetragen, die Beratungsfirma zu dem zu machen, was sie heute ist: die erste Adresse für NPO im deutschen Sprachraum, wenn es um Expertise in Management, Service und Bildung geht. Charles Giroud erzählt uns im Interview, wie er den Wandel in den letzten 40 Jahren erlebt hat, was sich nicht verändert hat, was ihn überrascht und welche Herausforderungen NPO in den nächsten 40 Jahren erwarten.
Charles, welchen Wandel hast du allgemein in der NPO-Welt während den vergangenen 40 Jahren beobachtet?
Als besonders auffälligen Wandel sehe ich im Rückblick, dass die Professionalisierung in der NPO-Welt sehr stark zugenommen hat. Die Anwendung von Management-Instrumenten ist heute selbstverständlich beziehungsweise Voraussetzung, um bei Mitgliedern, Klienten, Spendern, Sponsoren oder im Lobbying erfolgreich zu sein. Dabei hat sicherlich das Freiburger-Management-Modell und dessen Verbreitung durch die Lehrgänge des Verbandsmanagement Instituts (VMI) einen wichtigen Beitrag geleistet.
Die Management-Fragestellungen waren über die Jahre sehr konstant. Analyse, Zielsetzung und Planung, Marketing, Führung und Organisation, Finanz- und Rechnungswesen standen und stehen nach wie vor im Vordergrund. Jedoch hat sich der zeitliche Betrachtungshorizont verkürzt: Während man früher noch Mitgliederleitbilder und Verbandspolitiken für einen Zeithorizont von 10 Jahren erarbeitet hat, sind es heute, aufgrund der viel schnelleren Veränderungen im Umfeld, Zielsetzungs- und Planungsdokumente mit einer Perspektive von 3 bis maximal 5 Jahren. Im Marketing hat die Kommunikation eine verstärkte Bedeutung erhalten und in Organisationsfragen stehen heute Selbstorganisation und agile Organisationsformen im Fokus.
Welche Veränderungen hast du in Bezug auf den Bedarf und die Ansprüche der Kunden und der Organisationen wahrgenommen?
Die Ansprüche der Kundenorganisationen haben sich insbesondere bezüglich Tempo verändert. Die Projekte müssen – oder sollten – wesentlich schneller abgewickelt werden als in der Vergangenheit. Allerdings gilt auch heute noch, dass der Prozess für den nachhaltigen Projekterfolg sehr wichtig ist. Die Möglichkeiten, diese Prozesse in basisdemokratischen Organisationen, wie es Verbände nun einmal sind, zu beschleunigen, sind nur begrenzt vorhanden. Sicher helfen hier neue Methoden der Grossgruppenmoderation und die Möglichkeiten der Digitalisierung. Aber die Qualität des Prozesses und die Partizipation der Beteiligten bleibt ein strategisches Erfolgskriterium von Veränderungsprozessen.
«NPO selbst müssen in ihrer Entscheidungsfindung schneller werden, wenn sie nach wie vor Einfluss haben und Wirkung erzielen wollen.» – Charles Giroud
Was hat sich nicht verändert?
Nicht verändert haben sich nach meiner Wahrnehmung insbesondere zwei Dinge:
Einerseits die Zusammenarbeit von Ehrenamt und Hauptamt. Diese war von allem Anfang an ein sehr zentrales Thema. Bereits zum 10-Jahre-Jubiläum der B’VM haben wir dazu eine Tagung durchgeführt und eine Publikation veröffentlicht. Die Inhalte sind auch 30 Jahre danach aktuell.
Andererseits die Aufgabenteilung zwischen der Zentrale und den dezentralen Organisationseinheiten. Oder mit anderen Worten: Wie viel Zentralisierung bzw. wie viel dezentrale Autonomie braucht es bzw. wie viel wird von den Beteiligten akzeptiert.
Für beide Themen gibt es auch 2023 praktischen Anschauungsunterricht.
Welches waren für Organisationen die kritischen Überlebensfaktoren in den letzten 40 Jahren?
Viele Organisationen feiern Jubiläen: 50, 100, 150 Jahre. Ihren Gründungszweck haben sie längst erreicht. Die Frage nach neuen Zielen ist für solche Organisationen zentral. Dies auch deshalb, weil sich die Interessen ihrer Mitglieder verändern, weil sich in Verbänden in der Regel mehrere bis viele unterschiedlich gelagerte Interessengruppen bilden und aus dieser Entwicklung für die betroffenen Organisationen eigentliche Zerreissproben entstehen, die immer auch wieder zu Abspaltungen führen können.
Eine zweite Entwicklung – die für Verbände auch existenziell werden kann – ist die grundsätzliche Frage nach Kosten (Mitgliederbeiträgen) und Nutzen (Leistung, Wirkung). Diese Frage wird immer häufiger zum zentralen Entscheidungskriterium für einen Beitritt, Verbleib oder Austritt.
«Agilere Organisationsformen werden an Bedeutung zunehmen müssen, wenn die NPO attraktive Arbeitgeber sein wollen.» – Charles Giroud
Mit welchen Fragen müssen sich Organisationen in den nächsten 10 resp. 40 Jahren auseinandersetzen?
Wenn ich das wüsste! 40 Jahre sind eine lange Zeit. Gerade heute, wo wir mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (VUCA) konfrontiert sind. Ich glaube, dass die Themen im NPO-Sektor ähnlich bleiben, dass aber die Lösungen von diesem veränderten Umfeld geprägt sein werden.
Was für mich klar ist: NPO selbst müssen in ihrer Entscheidungsfindung schneller werden, wenn sie nach wie vor Einfluss haben und Wirkung erzielen wollen.
Auf der operativen Ebene kommen in den nächsten Jahren kommen immer mehr Mitarbeitende der Generationen Y und Z auf den Arbeitsmarkt. Ihre Vorstellungen an den Arbeitgeber und an die Arbeitswelt werden den Arbeitsalltag prägen. Agilere Organisationsformen werden an Bedeutung zunehmen müssen, wenn die NPO attraktive Arbeitgeber sein wollen. Darüber hinaus stellen wir fest, dass der NPO-Sektor immer mehr zu einer interessanten, weil sinnstiftenden Branche für Arbeitnehmer:innen wird.
Welche Entwicklung hat dich am meisten überrascht?
Als Mitautor des Freiburger-Management-Modells für NPO (1. Auflage 1994) überrascht mich, wie praxistauglich das Modell auch heute noch ist. Die verschiedenen Auflagen (die 10. ist in Vorbereitung und wird Mitte 2023 erscheinen) haben immer wieder kleinere und grössere Überarbeitungen erfahren. Das Grundgerüst aber hat Stand gehalten und hat sich bewährt. Das zeigen die Feedbacks aus unserer Beratung und aus den VMI-Lehrgängen.
Wo hast du dich geirrt in der Einschätzung der Entwicklung?
Geirrt habe ich mich bei der Harmonisierungskraft, die das Qualitäts-Management in mehrstufigen Verbänden auslösen könnte. Davon hat sich nur sehr wenig realisiert, wenngleich das Qualitäts-Management heute seinen Stellenwert hat und auch in Zukunft haben wird.
Kannst du auch bei dir eine (Lern-)Kurve feststellen? Was hast du über die Jahre gelernt – fachlich und persönlich?
Meine Lernkurve müssen andere beurteilen. Ich hoffe aber, dass die 40 Jahre Spuren hinterlassen haben. Dazu beigetragen haben sicher die vielen Erfahrungen als Berater, aber auch jene als Verbandspräsident, als Geschäftsführer von Verbänden und als ehrenamtliches Vorstandsmitglied.
Natürlich habe ich als Absolvent und VMI-Assistent der ersten Generation enorm vom VMI-Rüstzeug profitiert. Und die Gründerväter des VMI und der B’VM, Prof. Dr. Dr. hc Ernst-Bernd Blümle, Prof. Dr. Peter Schwarz und Prof. Dr. Robert Purtschert haben mir sehr viel geholfen.
Was war für dich die grösste Knacknuss?
Der 1. Diplomlehrgang des VMI 1986/1987, bei dem ich als Mitglied des damals noch kleinen Dozentenstabes mitwirken durfte. Alles war neu: Der Lehrgang, das Lehrmittel (Freiburger Management Modell), die Inhalte, die Rolle als – damals jüngster – Dozent. Auch die Erwartungen der Lehrgangsteilnehmenden konnten wir nur erahnen.
«Wir stellen fest, dass der NPO-Sektor immer mehr zu einer interessanten, weil sinnstiftenden Branche für Arbeitnehmer:innen wird.» – Charles Giroud
Wo holst du deine Inspiration her?
Es gibt aus meiner Erfahrung eigentlich zwei wesentliche Quellen: Die eine ist das Gespräch mit den Vertreter:innen der Kundenorganisationen und mit den Teilnehmenden an den Lehrgängen des VMI.
Die andere Quelle sind neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der Betriebswirtschaft, die Hinweise auf Entwicklungen geben. Diese gilt es auf ihre Bedeutung für die NPO zu prüfen und im Falle einer positiven Beurteilung auf deren Bedürfnisse anzupassen.
Beide Stränge verbinden das VMI und B’VM in ihrer langjährigen Action-Research-Partnerschaft.
Auf was bist du besonders stolz in Bezug auf das 40-Jahre-Jubiläum?
Ich bin dankbar! Dankbar von den Gründervätern des VMI und der B’VM Prof. Dr. Dr. hc Ernst-Bernd Blümle, Prof. Dr. Peter Schwarz und Prof. Dr. Robert Putschert die Chance erhalten zu haben, an der Gründung, am Aufbau und der ständigen Weiterentwicklung der B’VM massgeblich beteiligt gewesen zu sein. Heute ist die B’VM ein führendes Beratungsunternehmen im Bereich der Verbände, Stiftungen und NPO im gesamten deutschsprachigen Raum. B’VM ist eine Marke und erfreut sich seit dem Spin-Off 1983 der einmaligen Beziehung zum VMI, mit dem sie auch nach 40 Jahren in einer strategischen Allianz eng verbunden ist.
Nicht zuletzt freue ich mich sehr, dass die nächste Unternehmensgeneration da ist, welche B’VM mit Sicherheit erfolgreich weiterführen wird.