Wer die Welt verbessern will, scheitert oft schon in den eigenen vier Wänden.
«Be the change you want to see in the world.» – was Mahatma Gandhi mit Blick auf das Individuum schrieb, gilt ebenso – und noch mehr – für Organisationen, die gegründet wurden, um die Welt ökologischer, sozialer, gerechter und friedlicher zu machen. NGOs sollten also das, was sie in der Welt sehen möchten, in der eigenen, selbst gestaltbaren Welt vorleben. Dem ist leider nicht immer so.
Etwas Sinnvolles zu tun, ist das, was NGO-Mitarbeitende als Erstes erwähnen, werden sie gefragt, was ihnen an ihrem Job am besten gefällt. Und ja, in den NGOs arbeiten engagierte Menschen mit viel Herzblut für Sinnvolles. Und sie sind meiner Erfahrung nach in den allermeisten Fällen liebenswürdige Menschen, die die Welt wirklich zu einem besseren Ort machen möchten. Dass es der Absicht der Organisation und ihrer Mitarbeitenden zum Trotz oft zu Leid, Frustration und Stress bis hin zu Burnouts kommt, ist deshalb «erstaunlich». Warum gibt es öfter als man denken würde in NGOs das Paradoxon, dass man intern nicht lebt, wofür man extern strebt?
Vorausgeschickt sei an dieser Stelle, dass das, was ich hier schreibe, ich als mehrfach Gescheiterter und Ständigbemühter schreibe, nicht als Besserwisser. Ich möchte nur auf die Gefahr dieses unheilvollen Paradoxes hinweisen, das Dorothe Liebig treffend als ‘Purpose Paradox’ bezeichnet [1], also «Selber nicht zu tun, was man predigt». Eine der Ursachen liegt meines Erachtens darin, dass der Zweck allzu leicht die Mittel heiligt – wohl weil einem der Zweck heilig ist, nämlich: Den Planeten und/oder die Menschheit retten! Und für diesen heiligen Zweck darf man fast alles: Menschenrechtsorganisationen, die Angestellte diskriminieren, Hilfswerke, die kolonialistisch auftreten, Friedensorganisationen, die intern einen Kleinkrieg um die richtige Strategie führen. Und je grösser die Organisation oder je höher der Zweck ist, desto wahrscheinlicher tritt das Purpose Paradox auf.
Neben «üblichen menschlichen Gründen» wie Rivalität, Ehrgeiz und Geltungsdrang, ist ein weiterer Grund dafür der Zeitdruck, den man sich aufsetzt. Dazu ein paar Überlegungen:
Das Dringlichkeitsgebot wird in Form von Hektik ‘umgesetzt’ und rechtfertigt einem notfalls – höflich gesagt – jede Unhöflichkeit (mehr dazu siehe «Der Prioritäter»). Doch der Dringlichkeitsdruck verengt den Horizont zum Tunnelblick und setzt den Fokus auf kurzfristige Wirkungen, die dem Zweck oft nur scheinbar dienen. Damit wird die Wahrnehmung voneinander und das Bewusstsein füreinander reduziert – «alles muss» schnell, rasch, kurz und knapp sein. So ist «nur ganz kurz» eine täglich gehörte Floskel.
Zudem nimmt ein «Zweckfundamentalismus» überhand, wie Dorothe Liebig das in ihrem Aufsatz nennt. Sie schreibt, «… wenn wir fest davon überzeugt sind, dass wir die Lösungen haben und die Menschen um uns herum das Problem sind, wird sich das auf unsere Beziehungen und unser Handeln auswirken. Wir werden dogmatisch und sind davon besessen, Recht zu haben.» – und also müssen wir uns so rasch wie möglich durchsetzen. Das ist zum Beispiel an einem recht weit verbreiteten Projekt- oder Organisationsegoismus erkennbar (ersteres innerhalb einer Organisation, zweiteres bei der Zusammenarbeit zwischen Organisationen), also daran, wenn das Eigene stets das Wichtigste ist und anderes ignoriert wird.
Zudem ist es etwas verstörend, wenn zwar das kapitalistische System gegeisselt wird, man selbst aber ebenfalls nach immer mehr strebt und das immer schneller, will kurzfristige ‘Rentabilität’ (Output) – der «Kampagnenprofit» kommt vor dem Wohlergehen der Mitarbeitenden. Eben: Paradox.
Dabei müsste in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen das Dringliche mit dem Langsamen ergänzt werden: Slow is beautiful! Slow food, slow down, slow tourism, slow campaining. Ein grosser Mehrwert der NGOs ist doch auch Menschlichkeit, Mitgefühl, Achtsamkeit, Natürlichkeit, Nachdenklichkeit und Solidarität in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzubringen.
Stattdessen erhöht man den Dringlichkeitsdruck selber noch, indem man sich überambitioniert zu hohe Ziele bei knappen Ressourcen setzt. Das führt zu Konkurrenz- statt zu Kooperationsverhalten, weil Überengagement in einen Tunnel führt, in dem es keinen Raum und keine Zeit gibt, um innezuhalten und einen Schritt zurückzutreten, da man sich einredet, dass es zur Rettung des Planeten genau auf dieses eine Projekt ankommt. Und zwar «jetzt oder nie». Was nicht immer ganz falsch und damit ein Dilemma ist.
Eine Organisation kann dem entgegen und entschleunigend wirken, indem sie in die Kultur investiert, also Räume für Austausch und Beziehungspflege anbietet, Ideen und Engagement würdigt, in Weiterbildung und Lerntransfer investiert sowie bürokratische Anforderungen minimiert, um unter anderem den Zeitdruck zu mindern. Dieser Zeitdruck baut die Silos um die Einzelkämpfenden herum, und nicht fehlender Wille zur Zusammenarbeit (siehe Kolumne zur Organisationskultur). Das besagte Dilemma ist dabei, dass eine Organisation passionierte Engagierte braucht, die für ihr Thema brennen (und dabei eben rücksichtslos zu sich und anderen werden können). Sie gut einzubeziehen, ist eine wichtige Kunst.
Eine gewisse Langsamkeit zu pflegen, heisst eine Kultur der Resonanz, des Zusammenhalts, der Fairness, des Lernens sowie mit einer «verträglichen Diversität» anzustreben: In den Boden investieren für gute Früchte, sozusagen. Und weniger zweckrigid sein heisst auch, übergeordnete Ziele bei Bedarf anzupassen. Hinter Zielen stehen Absichten, also das, was man erreichen möchte. Ziele müssen zuweilen den Realitäten angepasst werden, nicht umgekehrt. Ziel und Absicht verhalten sich wie Reiseziel und Reiserichtung (destination and direction), und auf die Richtung kommt es primär an. Denn manchmal ist ein Umweg der kürzeste Weg: Der Zweck soll Orientierungshilfe und nicht Messlatte oder Korsett sein.
Je mehr man eine Organisation als Maschine sieht, also als Mittel zum Zweck, desto grösser die Gefahr, dass der Zweck zum Dogma mutiert. Die Organisation als Maschine zu sehen, ist ein griffiges Bild. Das ist nicht immer falsch, reicht aber bei weitem nicht aus. Zwar enthält jedes System mechanische Anteile, doch wo Menschen Teil eines Systems sind, wird es stets komplex. Das heisst, die systemische Sicht ist vielschichtiger, uneindeutig und vielfach lästig. So gesehen kann man eine Organisation nicht einfach steuern und kontrollieren, nur Einfluss auf sie nehmen. Und dabei den Mitarbeitenden vertrauen: Gemäss dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann ist Vertrauen das geeignetere Mittel als Kontrolle, um Komplexität zu bearbeiten [2]. Strukturell zum Beispiel indem die Macht verteilt und mehr mit Zuständigkeiten und weniger mit Hierarchien gearbeitet wird. Einfluss auf Menschen zu nehmen, geschieht oft am besten mit kleinen klugen Interventionen, neudeutsch «Nudging». Das beginnt bereits mit einem monatlichen Team-Mittagessen und hört mit der Einführung sitzungsfreier Tage noch lange nicht auf. Also vitalisierende Räume schaffen, in welchen die Mitarbeitenden in Beziehung zueinander geraten.
Organisationskultur ist deshalb auch die Art und Weise, wie versucht wird, Grundbedürfnisse der Mitarbeitenden wie Nähe und Distanz, Freiheit und Sicherheit sowie Autonomie und Zugehörigkeit zu befriedigen. Wie das Schnelle und Langsame oder das Kurz- und Langfristige sind diese Paare nur scheinbar Gegensätze – sie bedingen sich vielmehr. Wie Tag und Nacht.
In den Worten von Dorothe Liebig: «Organisationskultur ist kein Wohlfühlmoment, ist kein weicher Faktor, sondern ein vitaler Faktor, ein Kontext, der Vitalität und Werte schafft (…)». Notwendig gerade in einer volatilen, unsicheren Welt wie die gegenwärtige: Erneuerbare Energie und Klimaschutz sind also auch intern notwendig. Die Energie der Mitarbeitenden nährt sich nicht allein aus dem Zweck, sondern aus einem Zusammenspiel zwischen Sinngebung, Resonanz, Wertschätzung und Begleitung. Und ich glaube, dass dabei die «Führungsfrage» zentral ist. Egal ob hierarchisch oder nicht, selbst oder sonst organisiert: Es braucht Menschen in der Organisation, die die Aufgabe haben, Engagierte zu begleiten – Stichwort «Coaching»: Befähigung zur Selbstreflexion (z.B. bzgl. Stressreduktion [4] und Engagementerhalt [5]), zum Distanz nehmen und sich einordnen können (z.B. Teamfähigkeit [6]). Das ist der Organisation ihr Kitt – für weniger Shit.
PS: Zeit zu geben und also zu haben, nachzudenken – allein und mit anderen (Mentoring oder Peer Learning zum Beispiel) und damit die Frage nach der «Führung einer Organisation» und nach dem sich einordnen (nicht unterordnen) können, sind zentrale Punkte und ein Thema für eine andere Kolumne.
Literatur
[1] «THE PURPOSE PARADOX – Organizations with a vital purpose must be cautious with the culture they create inside themselves», Dorothe Liebig.
[2] «Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität», Niklas Luhmann, utb Verlag, 2014
[3] «A Culture of Happiness» Tho Ha Vinh, 2022, Paralax Press: Dieses inspirierende Buch passt hier zudem insbesondere, als dass Tho Ha Vinh das Purpose Paradox schon lange als ein vielen NGOs innewohnendes Problem erkannt hat. Er war zuletzt Programmdirektor des Gross National Happiness Center in Bhutan und überträgt nun im Rahmen des Eurasia Learning Center das Prinzip des «Bruttohappinessprodukts» (das in Bhutan das Bruttoinlandproduktes ersetzt hat) auf Organisationen und Schulen.
[4] «Workplace Stress Management – 11 Best Strategies and Worksheets», Jeremy Sutton, Positive Psychology, 2021: Wie Tho Ha Vinh meint auch Sutton, dass Achtsamkeit best prteactice zur Stressreduktion ist, und zwar in den drei Stressfeldern der beruflichen Anforderungen, nämlich (a) der Aufgabe (z.B. Überlastungsgefühl); (b) der Rolle (Rollenkonflikte, Unklarheiten) sowie (c) der Beziehungen (Führungs- und Persönlichkeitskonflikte). Eine nützliche Selbstbefragungsvorlage gibt es hier.
[5] «Flow at Work: How to Boost Engagement in the Workplace», Beata Souders, Positive Psychology, 2019. Ihr Fazit: Je zufriedener die Mitarbeitenden, desto engagierter sind sie. Und sie sind umso zufriedener, je besser die Qualität der Beziehungen und der Führung sind.
[6] Studien zur Teamarbeit zeigen, dass gute Zusammenarbeit zu verbesserter Produktivität, Kreativität und Arbeitszufriedenheit der Teammitglieder führen kann, vor allem dann, wenn sie ein Zugehörigkeits- und Sinngefühl verspüren, was umso ausgeprägter ist je unterstützender, vertrauensbildender, lernreicher und integrativer das Umfeld ist. Eine Zusammenfassung dessen, was für Teamarbeit zu tun und zu vermeiden ist, findet sich hier (aus: Group Genius: The Creative Power of Collaboration, Keith Sawyer, Basic Books, 2008 sowie aus: The secrets of great teamwork, Martine Haas und Mark Mortensen, Harvard Business Review, 2016)