Warum sich NPOs mit Selbstorganisation auseinandersetzen müssen
Vor etwa fünf Jahren hörte ich auf einer Rennradtour wohl das erste Mal das Wort Holakratie. Gerhard, Nachbar und Mitgründer von Liip, beschrieb wie progressiv sie das IT-Unternehmen organisierten und nur so das schnelle Wachstum bewältigen konnten.
Dem Modell der Selbstorganisation stand ich lange ambivalent gegenüber. Zum einen war es mir überhaupt nicht fremd: Ich hatte den Eindruck, dass wir in der NGO, für die ich arbeitete, schon in den 90er Jahren sehr ähnlich funktionierten. Zum anderen konnte ich mir aber auch nicht so richtig vorstellen, wie das mit der Verantwortung und Führung wirklich funktionierte.
Auf der anderen Seite lernte ich im Gespräch, dass Liip eine Verfassung habe und alle Prozesse und Rollen bis ins kleinste Detail festgelegt sind. Das schreckte mich auch wieder ab, ich fand diese Regelwerk rigide und ich fragte mich, wo da die Flexibilität und Gestaltungsfreiheit blieben.
Die gibt es natürlich. Nur werden die Entscheidungen nicht mehr vom Management getroffen, sondern von den einzelnen Teams, die bestimmen wie sie ihre Ziele erreichen wollen. Damit das funktioniert, arbeiten die Menschen in der Selbstorganisation nach klaren Prinzipien, Muster und Prozessen.
In der Schweiz haben sich in der Zwischenzeit vor allem drei «Schulen» etabliert, die im Folgenden mit ihren Vor- und Nachteilen kurz vorgestellt werden:
Klassische Soziokratie oder das Soziokratische Kreismodell
- «Erfinder»: Gerhard Endenburg, 1970
- Grundidee: Gemeinschaftliches Entscheidungsverfahren, Konzept für ein effizientes und demokratisches Organisationsmodell
- Soziokratische Basisprinzipien
- Konsent-Entscheidungsfindung
- Organisation in Kreisen
- Doppelverknüpfungen
- Offene Rollen
- Bekanntheit relativ gering
Holakratie
- Erfinder: Brian Robertson, 2007
- Kern-Mechanismen
- Integrative Entscheidungsfindung
- Organisation in Kreisen (Circles)
- Doppelverknüpfungen (Links)
- Freie Rollen
- Anspruch: Die gesamte Organisation stellt um
- Hohe Formalisierung, Holacracy Constitution
- Kommerzialisierung durch Markenschutz, teure Trainer:innen-Lizenzen
- Bekanntheit: relativ gut
Soziokratie 3.0
- Erfinder: Bernhard Bockelbrink, James Priest und (Liliane David), 2015
- Offener Baukasten für Selbstorganisation, bestehend aus:
- 7 Prinzipien (Grundwerte)
- >70 Muster, kontinuierliche Weiterentwicklung
- Anspruch: Anwendung von einzelnen Elemente möglich oder dass nur ein Bereich in einer Organisation umstellt
- Komplett frei verfügbar (Creative Commons), gut zugänglich
- Geringe Bekanntheit, aber steigend
Zusammengefasst kann gesagt werden:
Klassische Soziokratie
+ Ursprung
+ Bekanntheit in Wohn- und Gemeinschaftsprojekten, sozialen Einrichtungen
– kaum verbreitet und wenig bekannt in der Wirtschaft
Holakratie
+ relativ hohe Bekanntheit und Verbreitung
– zu formalisiert/unflexibel, one size fits all Konzept – kommerzialisiert und teuer
Soziokratie 3.0
+ hohe Flexibilität, Anpassbarkeit
+ freie Verfügbarkeit, kontinuierliche Weiterentwicklung
+ stark steigende Verbreitung
– Unbeständigkeit, keine Standards
– eigenes Vokabular ->Zugänglichkeitshürde
Eine Frage der Haltung
Je nach Reifegrad einer Organisation respektive der Mitarbeitenden und Zielsetzungen sehen die Prozesse für die Einführung respektive Umsetzung sehr unterschiedlich aus. Entscheidend ist auch, ob ein Modell für die ganze Organisation nach festen Vorgaben übernommen wird, was bei der Holakratie der Fall ist, oder ob ein Modell schrittweise oder nur in einzelnen Teams eingeführt wird. Letzteres ist in der Soziokratie 3.0 vorgesehen. Alle Modelle ändern aber fundamental die Arbeitsweise und das Führungsverständnis. Diese Änderungen brauchen in allen Fällen nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Übung und Training, um die neuen Verhaltens- und Denkmuster anzueignen.
Gemeinsam ist auch allen, dass das Management MACHT abgeben WILL. Dies ist einer der Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Umsetzung. Weil Selbstorganisation weder eine Technik noch ein Modell und auch nicht einfach ein Methodenbausatz ist. Selbstorganisation ist in erster Linie eine (Wert-)Haltung. NPOs, die selbstorganisiert sind, glauben an die Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden und fördern ein Miteinander auf Augenhöhe. Damit dies funktioniert, bieten eben alle obengenannte Schulen Empfehlungen an, wie dies effektiv und effizient umgesetzt werden kann.
Warum NPO sich damit auseinandersetzen sollen
Immer wird die Zweckorientierung von NPOs betont, sie setzen sich für eine bessere Welt ein. Aber warum ist diese Welt noch nicht gerechter? Warum gibt es immer noch Nord-Süd-Gefälle, Geschlechterungleichheiten, lässt die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung warten oder gibt es ethnische Konflikte?
Ein Erklärungsfaktor ist, dass die Macht ungleich verteilt ist.
Nach Aussen fordern viele NPOs eine gerechtere Welt, nach Innen sind sie aber den klassischen, hierarchischen Mustern aus dem Taylorismus verhaftet.
Hier bietet die Selbstorganisation eine Chance, auch nach Innen eine Transformation zu machen und eine «bessere Welt» zu leben.
Dies bestätigen auch viele Rückmeldungen, die wir von Mitarbeitenden aus solchen Organisationen bekommen. Sie sehen in dieser Organisationsform auch DIE Chance, damit sich weiterhin hochqualifizierte Menschen in und für NPOs engagieren wollen.