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„Kultur isst Strategie zum Frühstück“ von Gastautor Kuno Roth

Haende halten diverse Legofiguren in die Mitte

Die B’VM freut sich, mit Kuno Roth einen ersten Gastblogger zu begrüssen. Als Co-Präsident einer NPO und selbständiger Berater teilt er hier seine Erfahrungen im Bereich des organisationalen Lernens mit Ihnen.


Kultur isst Strategie zum Frühstück.“
Die besten Strategien nützen nichts, wenn die Arbeitskultur nicht stimmt

Die Swisscom und die SBB machen es, Spotify, Harley Davidson und Patagonia auch, ebenso Spitex, Greenpeace, Brot für alle, Solafrica und Velafrica: Immer mehr Organisationen restrukturieren sich ganz oder in einzelnen Bereiche mit Elementen aus Holokratie, Soziokratie, Teal Organisation oder anderen Formen der so genannten Selbstorganisation [1]. Die Einsicht scheint zu wachsen, dass Hierarchie nur ein soziales Konstrukt ist und dass es andere Formen gibt, sich klug bzw. klüger zu organisieren, um den Zweck der Organisation zu erfüllen. Und mit der Enthierarchisierung geht ein Kulturwandel einher – jedenfalls meine ich bei NGOs einen Trend zu einer bewussteren, mehr den eigenen Werten entsprechenden Gestaltung der internen Kultur zu konstatieren. 

Schön. Endlich. Denn was mich über die Jahrzehnte Tätigkeit in und um NGOs immer wieder gewundert hat, wie oft diese Organisationen Strukturen und Abläufe nach kapitalistischem Muster übernahmen. So war es beispielsweise lange Zeit selbstverständlich, beim Wachsen der Organisationen im Zuge der sogenannten Professionalisierung neue Hierarchiestufen einzuführen und am Organigramm zu schrauben. Man wusste nichts anderes, wollte effizienter werden und orientierte sich an der Produktivität und dem Output. Funktioniert hat es schon einigermassen; doch geknirscht im Scharnier zwischen “Bewegungsarm” (die Freiwilligen, mehr dazu) und statischer Struktur der Organisation hat es eigentlich immer. Und von der Dringlichkeit getrieben nahm wie in konventionellen Betrieben kurzfristiges Denken Überhand; und so kam es bei NGOs oft zu heftigen Konflikten, viel Frust und Burn-outs (siehe «Burnout in der Hitze des Klimagefechtes»). Als Gründe dafür, vermute ich den selbst gemachten Druck nach Output sowie dem Engagement oft inne wohnenden Antreiber «Symptombekämpfung» und «Dringlichkeit». Dabei waren nicht Konflikte an sich das Problem, die gehören ‘natürlich-kultürlich’ zu jeder Organisation, sondern die über lange Zeit schwelenden Konflikte oder jene, die sich explosionsartig entluden.

Das Purpose-Paradox

Nicht selten führte das zum «Purpose-Paradox», also dass Organisationen mit hohem Engagement für humanistische Werte gegen aussen, gegen innen diesen Purpose (als Teil ihres Zwecks) nicht lebten – man walkte den Talk nicht: Menschenrechtsorganisation, die intern Menschenrechte verletzten, indem sie z.B. People of Colour diskriminierten, oder Friedensorganisationen, in welchen Kleinkrieg um Entscheidungsbefugnisse tobte. Oder es zeigte sich ein Leistungsverständnis, das mit wenig Hemmung die Erlaubnis gab, Mitarbeitende im Namen eines höheren Ziels auszubeuten. Der humane Umgang miteinander war oft weniger wichtig als der Streit um die richtigen Strategien, auch wenn diese bloss Papier blieben.

Das war einmal und wird jetzt vielerorts besser: Die Einsicht, dass die ‘Kultur die Strategie zum Frühstück isst’, hat sich verbreitet – «Culture eats Strategy for Breakfast» wie es Peter Drucker in den 1990er Jahren formulierte und damit meinte, dass die Betriebskultur das Entscheidende für den Erfolg einer Organisation ist: Die besten Strategien nützen nichts, wenn die Arbeitskultur nicht stimmt – heute, in einer volatilen, unsicheren, komplexen und unklaren Welt («VUCA World»), zeigt sich dies noch akzentuierter. Nur wer intern gut miteinander auskommt, ist auch gut gegen aussen – langfristig jedenfalls.

Und eigentlich möchten ja die meisten Menschen ohne Stress und nur mit wenig Produktionsdruck arbeiten. Und sie arbeiten dann am besten, wenn sie in einem beschwingten Tun-Modus sind, also wenn sie Musse und Zeit zur Reflexion und zum Austausch haben, etwas ausprobieren zu können ohne gleich erfolgreich sein zu müssen.

Was diesen Zustand immer wieder verhinderte, war der Glaube an die Notwendigkeit der Produktionssteigerung durch erhöhte Effizienz. Dahinter steckte als Stressverursacher wohl oft die Verwechslung von Effizienz und Effektivität. Effektivität heisst “das Richtige tun” und Effizienz “etwas richtig tun” (wer immer auch sagt, was das Richtige und was richtig ist). Natürlich scheint die Kombination das beste; das Problem ist allerdings, dass Effektivität ganz grundsätzlich Zeit braucht. Man kann selten effizient effektiv sein. Und weil die Effizienz einfacher zu haben ist – zumal sie oft darauf reduziert wird, «etwas schnell(er) zu tun»: Kurzfristige Zeitersparnis war oft auch Mass bei NGOs – nahe am neoliberalen Mantra des «Immer-schneller-immer-mehr», das man eigentlich als Grundübel bekämpft. 

Schon früh dämmerte es zwar vielen, dass wir «das» – d.h. unser Engagement für sozial-ökologischen Wandel – eigentlich anders meinen und dass wir nicht einfach kapitalistische Methoden übernehmen sowie das ‘Purpose Paradox’ verhindern sollten. Um dieser Einsicht gerecht zu werden, braucht es in erster Linie eine Veränderung der Organisationskultur. Sonst fällt man in «kapitalistische Muster» zurück, die wir unserer Sozialisierung wegen in uns tragen. Reflexion, von einander lernen und Out-of-the-box-Denken sind die Mütter der Kreativität und sozialen Innovation [2]. 

Lesen Sie weiter… – Wohin könnte die kulturelle Reise gehen?

Wohin könnte die kulturelle Reise gehen? 

Sind holokratische Formen der Zusammenarbeit die Lösung für NGOs? Ich glaube nicht. Die trendige Holokratie hat sich in den Nuller-Jahren aus der Soziokratie, einer Organisationsform sozialer Bewegungen, in der IT-Branche entwickelt. Diese stellt sich eine Organisation plakativ gesagt als Maschine mit ein paar Sandkörnchen namens Mensch vor. In der Holokratie geht es wesentlich um Klarheit – klare Regeln, klare Prozesse, klarer Purpose [3]. Doch klar ist nicht gleich gut; Organisationskultur ist nicht nur Mechanik. Sie besteht aus dem Gemenge der Gefühle und aus den Verhaltensweisen der Mitarbeitenden und deren Erzeugnissen sowie aus Ritualen, Werten und den Grundannahmen – wie es der Organisationspsychologe Edgar Schein in seinem Kulturebenen-Modell anschaulich beschreibt. Als Seerose gedacht (siehe Bild) sind die Erzeugnisse und Verhaltensweisen die sichtbare Blüte und die Werte bzw Überzeugungen entsprechen dem Stängel – kaum bewusst unter der (Wasser)Oberfläche. Die Wurzeln sind die angenommene Art und Weise wie man miteinander und dem Umfeld umgeht – sie beeinflussen Stängel und Blüte. Kultur fühlt man im Grunde als die Atmosphäre, den Groove einer Organisation. 

Seerose - Bernd Oetereich

Es geht also sozusagen mehr um das Unsichtbare als um “Klarheit”. Sowie um den Willen und das Vermögen, damit (und miteinander) gut umzugehen. Kulturarbeit bedeutet, in die Qualität des Bodens zu investieren, damit die Pflänzchen gut wachsen und Früchte tragen. Und nicht an den einzelnen Pflänzchen zu zupfen. Oder in den Worten von Sankar Ramamoorthy: «If you feel good you work good», wie der Titel seines kürzlich erschienenen Buch über Betriebskultur heisst. Das heisst: Statt primär an den Fertigkeiten der Mitarbeiter*innen und damit am “work good” zu arbeiten, vermehrt in die Kultur, dem Feel-good investieren: interessante Arbeit, Gestaltungsraum, Begegnungsräume, Lernen voneinander und gute Arbeitsbeziehungen sind das A und O dafür. Kultur bedeutet, die Balance zwischen „Maschinen-Output“ und „Menschen“ gut zu gestalten. Die beiden Pole sind nicht als Widerspruch, sondern als Yin-Yang-Paar zu sehen. Beides ist gleichermassen wichtig. Ist man einseitig, heisst das entweder: Zu viel auf Resultate zu drücken (“output-driven”), bringt Stress für die Mitarbeitenden. Oder: Sich zu sehr um das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu kümmern, verdrängt den Purpose der Organisation.
Und Kultur beginnt bei den Menschen, dem Schatz einer Non-Profit-Organisation (andere reden vom Kapital). Es geht darum, sich zu trauen, Räume für den Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu schaffen, anstatt auf Ergebnisse zu drängen. Die Ergebnisse kommen von alleine, sozusagen.

Mit anderen Worten: Effektivität ins Zentrum stellen. Und nicht Effizienz, zu der Holokratie verführen könnte: Die Vorstellung der Organisation als geölte Maschine verdrängt die Tatsache, dass Menschen soziale Wesen sind, die Beziehungen, Austausch und Reibung brauchen. ‘Zu viel Maschine’ kann Mitarbeiter:innen diskriminieren, für die das Soziale Vorrang hat (wodurch zudem Diversität reduziert wird, siehe PS). A propos “Diversity and inclusion”: Integration und das Aufarbeiten strukturellen Rassismus’ ist in NGOs derzeit im Trend. Gut so. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass damit Symptome angegangen werden. Eine gute Organisationskultur ist dann erreicht, wenn ED&I-Arbeit nicht mehr nötig ist, weil sie Teil der Kultur geworden ist (siehe dazu eine Checkliste im Entwurf).

Die vitale Organisation als Vision

Wie also mehr Leben und Humanität in unsere Organisationen bringen?, fragt Sankar in seinem Buch. Ein Konzept, das die mechanischen Teile der Organisation mit den nicht mechanischen Teilen verbindet, ist das der vitalen Organisation [4]. Es beinhaltet drei Dimensionen: Die Organisation als Lebewesen (vitales System), als psychologisches System (Emotionen, Beziehungen, Engagement) sowie als Maschine (Prozesse, Strukturen, Strategien) – die alle gleichwertig wichtig sind. Eine vitale Organisation befriedigt die existenziellen Bedürfnisse der Beteiligten, nämlich Dazugehörigkeitsgefühl, Bedeutung und Autonomie – also die Sinngebung. Wichtige Elemente dafür sind: Gestaltungs- und Begegnungsräume zu schaffen, Entscheidungskompetenzen zu delegieren, fokussieren zu können (ohne “tunnelblickig” zu werden) und also Ablenkungen zu mindern. Und m.E. auch weniger «Applenkungen», d.h. weniger technophil: Den Digitalisierungssog gilt es mit einer Organisationskultur der Begegnung zu mildern.

Solche demokratisch(er)e Organisationsformen sind als «Macht miteinander» konzipiert – im Gegensatz zur traditionellen Hierarchie, die «Macht über» krafts Höherstellung bedeutet. Das Ideal ist Gleichstellung. Real gibt es häufig informelle Hierarchien, zudem bleibt oft eine Rest-Hierarchie. Unter anderem deshalb, weil es es Menschen gibt, die von sich sagen sie brauchen jemanden, die oder der ihnen sagt, was tun.
Wer an der Organisationskultur arbeiten will, ist gut beraten, diese Arbeit möglichst im Alltag einzubetten und so wenig wie nötig separate Anlässe zu organisieren. Weil diese als Zusatzaufwand und nicht zur eigentlichen Aufgabe gehörend gesehen werden und Widerstand wecken können. Es geht also eher um eine Serie kleiner Impulse und Schubser („Nudge the system with vitalising moves“). Ein Beispiel, m.E. leiden viele Engagierte an einer Zuhörschwäche, sie meinen keine Zeit zu haben, zuzuhören und sind im steten Mach-Modus. Eine vitalising move wäre demnach, richtiges Zuhören mit einer kleinen Übung zu lernen und danach in künftigen Sitzungen einzuflechten.

Und für die einzelnen Mitarbeiter*innen würde dies bedeuten, in der eigenen Rolle für das Ganze einzustehen, keine Silos durch Hyperaktivsein errichten (keine Zeit zu haben, ist übrigens die Wand dieser Silos), sein Ego zurückzunehmen und (eben) zuzuhören, wertschätzend zu kommunizieren sowie zu lernen, mit Unsicherheiten und Unklarheiten zu leben. 

PS: Einige NGOs bedienen sich bei den Tools (und der Nomenklatur) der Holokratie, weil sie gut gemacht und praktisch sind. Damit geht man das Risiko ein, dem Maschinenteil der Organisation zu viel Gewicht zu geben und die psychologischen und vitalen Anteile zu diskriminieren. Stichworte dafür, die Wenn-Dann-Logik der Maschine zu ergänzen wären etwa: Zeit für Teambildung nehmen und geben; vielfältige Teams sind intelligenter, brauchen aber mehr Zeit für die Entwicklung ihrer Arbeitskultur als homogene Teams; effektive Dialoge statt «effiziente» Monologe; mehr Stärke dank gelebten Beziehungen (“Relationships leads to results”, wie es Sankar formuliert) .
Und Selbstorganisation heisst “mehr Selbstverantwortung”: Ist kein Chef mehr da, den man für einen Missstand verantwortlich machen kann oder der einem Entscheide abnimmt, muss selber mehr Verantwortung getragen werden. Das ist nicht allen gleich gegeben, kann nicht deklariert, nur gelernt werden. Vom Gewohnten wegzukommen, bleibt schwierig und ist Teil der Kulturarbeit.

(1) eine gute Einführung und einen Augenöffner hat Fréderique Laloux mit «Re-inventing Organisations» geschrieben – anhand zahlreicher Firmen und Organisationen zeigt er, dass es auch anders als konventionell geht. Nützlich für Umsetzungen sind  das Handbuch “Agile Selbstorganisationsentwicklung” sowie die Plattform soziokratie.org/

(2) siehe z.B. “Building Better Systems – a green paper system innovation” (Rockwool Foundation)

[3] «Purpose», «Rolle», «Dynamogramm» (statt Organigramm), «Kreise» (statt Abteilungen) und “agile Organisation” sind dabei die neuen Begriffe.

(4) Entwickelt von Dorothe Liebig und Ute Langthaler, siehe https://www.aeon-group.com/de/vital-organisation/


Diese Artikel von Kuno Roth sind bereits im B’VM Blog erschienen:

„Lernen von Seinesgleichen“

„Lernerfolg und -transfer: Wie messen?“

Blogartikel zum Thema:

Agilität – etwas für Ihre Organisation?

Mitarbeitende wollen eingebunden werden

NPO und Selbstorganisation

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