Interview mit Elke Fassbender, Fundraising&Kommunikation bei Brot für alle, u.a. aktiv im Kreis Organisationentwicklung
Liebe Elke, Brot für alle hat als eine der ersten Non-Profit Organisationen den Schritt hin zu einer neuen Organisationsform gewagt. Was war ausschlaggebend um diesen Prozess auszulösen?
Im Jahr 2015 haben wir erkannt, dass unsere Organisation zu «formalisiert» war. Wir hatten zu viele Sitzungen, die Entscheidungswege waren lang. Wir haben zu viele Strategien entwickelt, und über die gesamte Organisation betrachtet, jedes Jahr etwa 100 operative Ziele definiert. Oft dauerte es lange, bis neue Projekte lanciert wurden, weil viele Entscheidungen erst in der Geschäftsleitung getroffen werden mussten. Mitarbeitende erwarteten von der Geschäftsleitung Vorgaben und Problemlösungen. Diese Umstände führten zu unserer Entscheidung, neue Formen der Zusammenarbeit zu finden, um im Tagesgeschäft und bei Entscheidungsprozessen flexibel und schneller reagieren zu können. Es war der Startpunkt für einen Veränderungsprozess.
Wie seid ihr konkret vorgegangen? Was waren die Schritte und zu welchem Ergebnis führten diese?
Zuerst haben wir alle Mitarbeitenden, die Interesse hatten, zu so genannten «Learning Journeys» eingeladen. Dazu sind wir in Kleingruppen bis 5 Personen zu unterschiedlichen Unternehmen, Organisationen, Agenturen, landwirtschaftlichen Betrieben (Bio/Permakultur) gegangen, um uns ein Bild davon zu machen, warum sie erfolgreich sind, was sie antreibt und was sie bei ihrer Arbeit motiviert. Wir wollten lernen, was uns als Team inspirieren könnte und welche «Elemente» der Zusammenarbeit auch für uns interessant sein könnten. Gleichzeitig beschloss die Geschäftsleitung, dass ab sofort alle Sitzungen für die Mitarbeitenden freiwillig sind. Sie sollten selbst entscheiden, an welchen Sitzungen sie je nach Interesse, Kompetenz und Fachverantwortung teilnehmen wollen.
In einem nächsten Schritt haben wir gemeinsam eine Vision für Brot für alle entwickelt und unsere Werte definiert, die auch für unsere Zusammenarbeit gelten. Parallel dazu begann das Führungsteam mit externer Unterstützung einen Prozess zur Erarbeitung von Führungsprinzipien und lernte das System der Rollen und Verantwortlichkeiten nach Holacracy kennen. Das Führungsteam wollte, dass die Mitarbeitenden in ihren Arbeitsbereichen mehr Entscheidungen treffen und mehr Eigenverantwortung übernehmen. Dann haben wir ebenfalls mit externer Unterstützung, Rollen und Verantwortlichkeiten definiert, die es bei Brot für alle braucht, um unsere Vision und unsere Mission zu erfüllen. Diese lösten die klassischen Stellenbeschreibungen ab.
Gemeinsam mit dem Team haben wir unsere eigene Organisationsform entwickelt, die auf Holacracy basiert. Wir nennen sie Bfacracy. Wir passten Dinge an, die besser zu unseren spezifischen Bedürfnissen passen.
Gab es auf eurem Weg Überraschungen, Aspekte bei denen Ihr andere Erwartungen hattet?
Ich würde weder von grossen Überraschungen, noch von grossen Irrtümern sprechen. Wenn man sich vorstellt, dass sich sofort alles verändert, ist das nicht richtig. Ein Veränderungsprozess braucht Zeit und Geduld. Menschen brauchen Zeit, sich zurecht zu finden. Dabei tun sich einige schwerer als andere, loszulassen und sich nur noch auf die eigenen Rollen zu konzentrieren und beispielsweise nicht mehr überall mitzureden. Es war für uns toll zu sehen, wie motiviert und interessiert die Menschen waren und sich in den Prozess eingegeben haben. Die Mitarbeitenden sind motiviert, ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen. Sie haben mehr Spielraum, im Rahmen ihrer Rollen, Entscheidungen allein zu treffen und die Rollen bestmöglich auszufüllen. Die Entscheidungswege sind generell kürzer und Projekte werden schneller umgesetzt. Und: Die Kreativität und die Effizienz steigen durch die Mitwirkung. Und wer erwartet, dass sich auch zwischenmenschliche Spannungen mit einer Selbstorganisation lösen lassen, irrt sich. Vielleicht akzentuieren sie sich sogar noch stärker, weil man sich immer wieder auf seine Rolle besinnen muss.
Was sind die wichtigen und zentralen Fragen, die sich eine Organisation stellen muss, bevor sie sich auf diesen Prozess einlässt?
Eine Organisation, respektive die Mitarbeitenden innerhalb einer Organisation die bisher Entscheidungsmacht hatten, müssen sich bewusst sein, dass sie Macht abgeben müssen. Konkret die Geschäftsleitung, die Bereichsleitungen müssen wirklich wollen, dass sie weniger Kontrolle haben und dafür die Mitarbeitenden gemäss ihren Rollen und in den entsprechenden Kreisen stärken, ihnen mehr Kompetenzen geben. Die Machtträger:innen innerhalb müssen wirklich überzeugt sein, dass sie loslassen können. Am Ende ist die Selbstorganisation nicht einfach eine weitere Organisationsform, sondern eine Haltungsfrage. Das Management muss sich also ganz ehrlich fragen, ob sie so einen Change wirklich wollen, bereit sind los zu lassen und Vertrauen in die Mitarbeitenden zu haben, dass diese ihren Job gut machen werden. Ansonsten wird es nicht funktionieren.
Gibt es NPO spezifische Punkte, die aufgetaucht sind?
Nein. Das kann man so nicht sagen. Der einzige Unterschied zu einem Unternehmen, beispielsweise aus der IT-Branche, ist, dass dort Rollen und Verantwortlichkeiten wahrscheinlich häufiger wechseln, als bei uns. Aber das ist Spekulation. Ich kann dazu nicht wirklich was sagen.
Liebe Elke, ich danke dir ganz herzlich für diesen spannenden Einblick in euren Prozess und dem Teilen deiner Erkenntnisse. Ich wünsche dir alles Gute, auch in Hinblick auf die zukünftige Fusion mit HEKS.
Martin Diethelm